Improvisation und Szenarien der Zukunft
von Prof. Dr. Christopher Balme (LMU Munich)
Jazzmusiker tun es, Schauspieler tun es, Unternehmer tun es, auch Generale tun es: In Kunst, Wirtschaft und Militär wird improvisiert. Dort wird aber auch geplant und mit Szenarien gearbeitet: ob mentale Schemata, Kriegsspiele, Unternehmensentscheidungen oder Theateraufführungen, Improvisation geht Hand in Hand mit Überlegungen über die Zukunft. Plan und Improvisation stehen in einem produktiven, aber nicht immer vorurteilsfreien Spannungsverhältnis.
Bereits die etymologische Herleitung des Wortes weist auf die Zukunftsdimension hin, wie Georg W. Bertram und Michael Rüsenberg in ihrer Studie Improvisieren! Lob der Ungewissheit herausarbeiten:
Das italienische improvvisare (›aus dem Stegreif agieren‹) ist ein Verb, das von improvviso (›unerwartet, unvorhergesehen, unvermutet‹) abgeleitet ist. Improvviso lässt sich wiederum auf das lateinische Verb providere (›vorhersehen‹) und die mit ihm zusammenhängende verneinende Form des Partizip Perfekt Passiv improvisus (›unerwartet, unvorhergesehen‹) zurückführen. Improvisieren ist also ein unvorhergesehenes Tun, das auf die Zukunft verweist. (5)
Das Unvermutete kann als Bedrohung oder als Chance begriffen werden. Die Verwendung des Wortes „Improvisation“ in europäischen Sprachen verbreitet sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und verstärkt im frühen 19. Jahrhundert. Grimms Wörterbuch der deutschen Sprache kennt „Improvisation“ als Lemma nicht, verwendet das (Fremd-)Wort aber als Beschreibungskategorie etwa für den Stegreifvortrag. Auch wenn es frühere Belege für Improvisation gibt: deren Verbreitung scheint ein Phänomen der Epoche zwischen Spätaufklärung und Spätromantik zu sein. Hier finden wir zahlreiche Beispiele für Improvisation als Form des virtuosen Theaterspiels (und hierin dem heutigen Impro-Spiel nicht unähnlich), aber auch eine Wiederentdeckung der Werke Carlo Gozzis (etwa im Werk E.T.A. Hoffmanns). Aber über den Theaterkontext hinaus findet das Wort Improvisation Akzeptanz als Bestandteil einer neuen Zukunftssemantik, die sich in dieser Zeit herausbildet. In Reinhardt Kosellecks Begriffsgeschichte nimmt eine Neubestimmung der Zukunft eine zentrale Rolle ein, die die Moderne ankündigt. Koselleck zufolge lässt sich erst seit dem 18. Jahrhundert das Wort 'die Zukunft' im abstrakten Sinne verstärkt nachweisen. Das gehe mit einer Ablösung jüdisch-christlicher Eschatologie durch einen offenen weltlichen Erwartungs- und Gestaltungshorizont einher.
In diese Zeit fällt eine Wiederaufwertung der Improvisation im Rahmen der Rhetorik. Die improvisierte Rede hatte dort immer eine Rolle gespielt, galt aber eher als Randphänomen. Bezeichnenderweise erschien im Revolutionsjahr 1848 eine deutsche Übersetzung und Bearbeitung von Eugène Paignons Éloquence et improvisation: art de la parole oratoire (1846): Beredsamkeit und Improvisation oder die Redekunst aus dem Stegreif, vor den Gerichtsschranken, auf der Volksrednerbühne und auf der Kanzel. Der Übersetzer, Christian Friedrich Gottfried Teuscher, war selbst Pfarrer und Schriftsteller im Großherzogtum Weimar und sicherlich kein Revolutionär, setzte sich aber für eine Aufwertung der Improvisation in der politischen Rhetorik ein. Im Vorwort heißt es: „Deutschland fand bis jetzt in seinen bestehenden Einrichtungen, bei dem Mangel alles öffentlichen bürgerlichen Lebens, weder Veranlassung noch Gelegenheit, eine andere Gattung von Beredsamkeit auszubilden als die der Kanzel.“ Die Befreiung der improvisierten Rede aus der Unmündigkeit der Kanzel wird hier als Grundvoraussetzung gesehen, um eine demokratische Öffentlichkeit herauszubilden.
In dieser „Sattelzeit“ (ca. 1750-1830) treten gehäuft die Zukunftsemantiken auf, die uns heute so vertraut sind. Wir entwerfen unsere Arbeit in Form von „Projekten“, dessen Etymologie (pro-jectare = nach vorne werfen) auf die Zukunft hinweist. Wie alle Projektmanager:innen wissen, plant man Projekte am besten immer vom antizipierten Endpunkt her, der zwangsläufig in der Zukunft liegt. Auch der „Plan“ gehört zu den Zukunftssemantiken der Sattelzeit. Pläne verlagern unser Denken und unser Tun zwangsläufig in die Zukunft. Wir kalkulieren „Risiken“, die auf Wahrscheinlichkeitsberechnungen basieren, wir investieren in den „futures market“, Wissenschaftler:innen modellieren für die Politik wahrscheinliche Entwicklungen auf den verschiedensten Feldern; wir stellen Mitarbeiter:innen nicht nur aufgrund ihrer Leistungen, sondern zunehmend im Hinblick auf ihr „Potential“ ein. Von diesen „modernen“ Zukunftssemantiken ist „Risiko“ wohl die älteste, die im Deutschen bereits im 16. Jahrhundert verbürgt ist, wo sie der „oberdeutschen Kaufmannsprache“ (uff unser Rysigo 1507, Risigo 1518) entlehnt ist und einen „gewagten Einsatz bei einer geschäftlichen Unternehmung“ bedeutet (Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache). Mit dem Risiko verwandt, aber doch unterschiedlich ist der Begriff der „Unsicherheit“ (uncertainty). Sie bestimmt die Zukunft in einem viel umfassenderen Sinne als Risiko, das zunächst auf bestimmte Bereiche wie das Versicherungswesen beschränkt ist. Der Unterschied besteht darin, dass zumindest im Bereich der Wirtschaft Risiken messbar sind, Unsicherheiten aber nicht. Die Unsicherheiten der Zukunft sind oft selbst erzeugt, wie die Langzeitfolgen der Kernenergie, der Klimawandel und vielleicht auch die Verbreitung von Viren. Die große Herausforderung besteht also darin, Techniken zu entwickeln, um die Kontingenzen und Unsicherheiten einer offenen Zukunft zu bewältigen. Und hier kommen die Szenarien „ins Spiel“ und mit ihnen die Improvisation.
Um verlässlichere, berechenbare Wege in die terra incognita der Zukunft zu finden, dienen Szenarien als erprobte Technik. Wie die Improvisation ist der Begriff Szenario auch theatralen Ursprungs. Die scenarii der Commedia dell’arte bezeichneten die textlich festgelegten Handlungsskizzen des Repertoires einer Truppe. Schriftlich fixiert waren die Geschichten, die Figuren, die Art der Requisiten und die Auf- und Abtritte der Figuren. Improvisiert wurden ‚lediglich‘ die Dialoge. Manche Monologe dagegen waren auch festgelegt, auswendig gelernt und wurden, je nach Geschichte, vielseitig situativ eingesetzt. Eine Liebeserklärung ist letztlich personenunabhängig und versatzstückartig (Haar- und Augenfarbe z.B. können der Angebeteten angepasst werden), ebenso Wutausbrücke (sogenannte Tiraden). Diese Textbausteine wurden gesammelt in sogenannten zibaldoni und bildeten einen wichtigen Teil des geistigen Eigentums (IP) eines Schauspielers bzw. einer Truppe. Dass Szenarien und zibaldoni überhaupt überliefert wurden, verdanken wir ihrer Textgestalt, der Tatsache, dass sie aufgeschrieben und nicht ausschließlich improvisiert wurden. Dadurch kann die Theatergeschichtsschreibung in etwa rekonstruieren, wie sich das Verhältnis von Festlegung und spontaner inventio bei den Commedia dell’arte-Truppen gestaltete. Die Spielpraktiken der Commedia-Truppen lehren uns, dass Improvisieren nicht unbedingt bedeutet, dass man aus dem Nichts schafft, was vermutlich eine contradictio in adjecto wäre. Es gibt nie eine Stunde null, nie eine reine Tabula rasa in der Improvisation.
Was sind aber Szenarien, die offensichtlich engstens mit der Kulturtechnik der Improvisation zusammenhängen und vor allem, wie und in welchen Zusammenhängen werden sie eingesetzt? Im gesamten 19. Jahrhundert war der Begriff „scenario“ bzw. „Szenarien“ weitestgehend auf den Bereich Theater beschränkt und zwar als Textform, die lediglich ein Handlungsgerüst skizziert. Kurz nach 1900 wandert der Begriff in das neu entstandene Filmgeschäft weiter, wo er als Bezeichnung für eine Handlungsskizze diente, was man heute landläufig treatment nennt. Szenarien fanden aber auch in anderen Bereichen Verwendungen. Wenn wir Szenarien im Sinne alternativer Handlungsmöglichkeiten verstehen, dann bieten Kriegs- bzw. Planspiele auch ein reichhaltiges Gebiet, wo bereits im 19. Jahrhundert, dann aber mit hoher Professionalität im 20. Jahrhundert sowohl „gespielt“ als auch geplant wurde.
Dass diese Spiele, die oft ein hohes Maß an Improvisation beinhalteten, auch todernste Folgen haben konnten, wird im Buch des britischen Journalisten Simon Parkin, A Game of Birds and Wolves (2020), in hochspannender Weise erzählt (Steven Spielbergs Produktionsfirma hat sich die Filmrechte bereits gesichert). Parkin rekonstruiert, wie England dem deutschen U-Boot-Krieg im Nordatlantik mit einem ingeniösen Planspiel begegnete. Offiziere auf den Begleitschiffen der Konvois wurden mit Hilfe eines riesigen Brettspiels auf die Bekämpfung von U-Booten vorbereitet. Sie konnten verschiedene „Szenarien“ üben und durchspielen und dann im Ernstfall die richtigen Taktiken einsetzen. Dass die wichtigsten und erfolgreichsten Spieler:innen Frauen im Marinedienst (sogenannte WRENS, Womens Royal Navy Service) waren, verleiht der Geschichte eine nachträgliche Erklärung, warum sie wahrscheinlich so lange vergessen wurde.
Der Erfolg solcher Kriegsspiele hat sicherlich bei der Verwendung von Szenarien eine Rolle gespielt. Kurz nach Kriegsende wurden im Rahmen der RAND Corporation, einem Think Tank mit starken Verbindungen zur amerikanischen Luftwaffe, Planspiele für den Kalten Krieg, vor allem zu eventuellen Atomkriegen, entwickelt. Grundlage solcher Spiele waren Szenarien, die spieltheoretische Ansätze mit Simulationsmodellen verknüpften. Im Zuge der verschiedenen Entwicklungen im Zusammenhang mit War bzw. Political Gaming hat sich eine regelreche Szenario-Methode herausgebildet. Diese wanderte in den 1970er Jahren in die Wirtschaft, in einem ersten Schritt in die Energie-Wirtschaft, wo Shell z.B. diese Methode zur Berechnung von Entwicklungen auf dem Energiemarkt unter Berücksichtigung der geopolitischen Gesamtlage (Stichwort „Ölschock“) einsetzte. Von da an wurden Szenarien auf vielfältigen, vor allem geschäftlich-ökonomischen Feldern eingesetzt. Publikationen von Pierre Wack (“Scenarios: Unchartered Waters ahead” , 1985) und Peter Schwartz (The Art of the Long View: Planning for the Future in an Uncertain World, 1991) führten dazu, dass die Erstellung von Szenarien standardisiert wurde. In diesem Verständnis stellen Szenarien eine postulierte oder projizierte Situation oder Abfolge möglicher zukünftiger Ereignisse dar. Heute sind sie in Wirtschaftsleben, Politik, Unternehmensberatung usw. weit verbreitet und vielleicht am häufigsten im Kontext der Klimaforschung anzutreffen.
Trotz aller datenbasierter Vorbereitungen und Modellierungen lässt sich die theatrale DNA aller Szenarien kaum verleugnen. Eine Definition der Soziologen Grégoire Mallard und Andrew Lakoff hebt wohl unbewusst die Theaterdimension hervor:
Die szenariobasierte Übung ist eine eng strukturierte Erzählung, in der die Entscheidungsträger mit einer dringenden Krise konfrontiert werden, Maßnahmen ergreifen und dann die Ergebnisse ihrer Entscheidungen beobachten müssen ... Diese Szenarien sagen nicht die Zukunft voraus, sondern schildern wahrscheinliche Ereignisse, aus deren Auswirkungen Lehren für die Gegenwart gezogen werden können. Ein entscheidendes Element bei der Gestaltung solcher Übungen ist die Strukturierung einer affektiv berührenden Erfahrung für die Teilnehmer: Obwohl die Teilnehmer wissen, dass das Ereignis fiktiv ist, müssen sie sich dennoch darauf einlassen, als wäre es real. (Mallard/Lakoff 2011: 358; Übersetzung und Hervorhb., C.B.)
Erzählung, Krise, Wahrscheinlichkeit, Affekt, fiktiv, als ob: Die Poetik des Aristoteles lässt grüßen. Wenn der Erfahrungsmodus von Szenarien Als-ob und Fiktion privilegiert, dann stellt sich zugleich die Frage nach dem Bezug zur Wirklichkeit. Denn Szenarien außerhalb des fiktionalen Rahmens des Theaters dienen dazu, die Wirklichkeit und nicht fiktive Welten zu modellieren. Jedoch tun sie dies mit den Mitteln des Theaters, sofern wir Theater als fiktionales Medium verstehen. Um die Zukunft der realen Welt zu antizipieren, erweisen sich die bewährten Techniken der Dichtung als zuverlässige Orientierung. Dieser etwas widersprüchlich anmutende Befund lässt sich besser verstehen, wenn wir die Frage nach der Zeitlichkeit von Szenarien stellen. In welcher Zeitlichkeit befinden sich Szenarien? Wenn die Kunst der Improvisation die Gegenwart verabsolutiert (es gibt scheinbar kein Vorher und kein Nachher), bevorzugen Szenarien die Zukunft. Es ist dieses Zusammenspiel von Gegenwart und Zukunft, die Improvisation und Szenarien zu einem potenten Medium machen. Heute sind Szenarien eine Möglichkeit, nicht unbedingt in die Zukunft zu schauen, aber sie zu antizipieren. Und damit ist viel zu gewinnen.
Literatur
Bertram, Georg, und Michael Rüsenberg. 2021. Improvisieren! Lob der Ungewissheit. Ditzingen: Reclam.
Mallard, Grégoire, and Andrew Lakoff. 2011. "How claims to know the future are used to understand the present techniques of prospection in the field of national security." In Social knowledge in the making, edited by Charles Camic, Neil Gross and Michèle Lamont, 339-377. Chicago: University of Chicago Press.
Paignon, Eugène, und Christian Friedrich Gottfried Teuscher. 1848. Beredsamkeit und Improvisation oder die Redekunst aus dem Stegreif, vor den Gerichtsschranken, auf der Volksrednerbühne und auf der Kanzel. Weimar: Voigt.
Parkin, Simon. 2020. A Game of Birds and Wolves: The Ingenious Young Women Whose Secret Board Game Helped Win World War II. London: Sceptre.
Schwartz, Peter. 1996. The Art of the Long View: Paths to Strategic Insight for Yourself and Your Company. New York: Doubleday.
Wack, Pierre. 1985. "Scenarios: Uncharted Waters Ahead." Harvard Business Review 63 (5):73-89.